Diesen Satz höre ich von vielen Patienten, vor allem von Frauen, die zu mir in die Praxis kommen, weil sie so erschöpft sind. Ja, das gibt es: Vitaminmangel trotz oder bei gesunder Ernährung. Das mag paradox klingen, aber die Aspekte, die es hier zu berücksichtigen gibt, sind vielfältig:
Erstens ist es nicht so leicht, den Begriff der „gesunden Ernährung“ für alle und jeden Einzelnen zu definieren. Was ist wirklich gesund? Was meint man mit „gesund“? Meine Beobachtung ist, dass man in Deutschland mit der Nahrung übertreibt. Es wird der Eindruck erweckt, als könnte man mit dem richtigen Essen nicht nur alle Krankheiten vermeiden und behandeln, sondern auch das Altern verhindern. Solch eine Macht hat unsere Nahrung nicht. Es gibt keine Nahrung, die uns unsterblich macht, unangreifbar für Infektionen, Unfälle, Pech, und die stärker ist als unsere genetische Veranlagung. Das wäre so, als wollte man mit grünen Smoothies die Haarfarbe verändern oder eine Glatze vermeiden.
In Deutschland und anderen reichen Ländern mit einem Überangebot an Nahrung und ständigen Gelegenheiten oder auch Verpflichtungen zum Essen bedeutet „gesund essen“ zum einen möglichst NICHTS Schädliches, wie Zucker, Transfette, künstlich haltbar gemachte Fertigprodukte, tierische Produkte aus Massenhaltung sowie zum anderen insgesamt einfach WENIG.
Wenn man NICHTS + WENIG kombiniert mit frischem regionalen Obst, Gemüse, Nüssen, Hülsenfrüchten, Salat, guten Ölen, ausgewählten Getreideprodukten und einigen tierischen Bio-Eiweißen, steht man schon ganz gut da und trotzdem kann es für den eigenen Stoffwechsel Lücken im Vitaminhaushalt geben, erst recht ab 45 mit beruflichem Stress.
Zweitens sind unsere Körper in ihrem Vitamin- und auch Mineralienbedarf nicht gleich. Es gibt genetisch bedingt große Bedarfsunterschiede bezüglich einzelner lebenswichtiger Stoffe. In den Medien, in der Medizin und den Fachgesellschaften wird so getan, als bräuchte jeder und jede pauschal das Gleiche, aber das stimmt nur in Bezug auf die Menge, um nicht zu sterben. Fünf Mal am Tag Obst und Gemüse ist super, aber was man in einer bestimmten Lebensphase mit Stress oder auch nicht, Sport oder auch nicht, wirklich braucht, um top versorgt zu sein, ist bei jedem von uns anders. Es gibt zum Beispiel genetisch bedingt Menschen, die B12 nicht so gut resorbieren können. Selbst, wenn sie jung sind, Fleisch essen und die Magenschleimhaut intakt ist, kann es sein, dass B12 zugeführt werden muss, um therapeutisch wirksame Spiegel zu erhalten. Genauso mit Vitamin D. Es gibt Menschen, die brauchen genetisch bedingt eher hohe tägliche Dosen (10.000 IE) und andere brauchen nur eine kleine Dosis täglich (1000 IE), um einen guten Vitamin-D-25-OH-Spiegel von 50 ng/ml zu haben. Bei HPU kann es zum Beispiel sein, dass der tägliche Zinkbedarf 100 mg beträgt. Andere brauchen überhaupt kein Zink. Genauso mit Selen. Manchen reicht eine tägliche Dosis von 100 µg (in Deutschland brauchen fast alle etwas Selen), andere brauchen über 600 µg tägliches Natriumselenit, um unter anderem eine richtige Umwandlung (Konversion) von fT4 in das aktive Schilddrüsenhormon fT3 zu gewährleisten (bitte nur dieses anorganische Natriumselenit verwenden, nicht organisches Selen, wie zum Beispiel Selenhefe, dies kann zu toxischen Spiegeln führen).
Drittens lassen sich mit der Nahrung nur sehr begrenzt direkt therapeutisch Laborwerte verändern. Eine gezielte Behandlung allein über die Ernährung in einer Situation, in der es über die Jahre schon zu einer relevanten Dysfunktion gekommen ist, ist nicht möglich. Wenn jemand ein Kalium am unteren Rand der Norm hat und deswegen mehr Extrasystolen, kann man natürlich Bananen essen, aber man muss sehr viele Bananen essen, um das Kalium von 3,4 auf 4,0 mmol/l zu bringen, wenn das überhaupt geht. Es dauert auch zu lange, bis die zehn Bananen im Darm zerlegt werden. Einfacher, sicherer und effektiver – das Kalium betreffend – ist es, eine Kalinor-Brausetablette mit 40 mmol Kalium zu trinken, diese bringt den Kaliumspiegel sicher nach oben. Aber bitte nicht einfach so hohe Dosierungen einzelner Stoffe einnehmen, besser ist es, vorab über eine Laboruntersuchung zu prüfen, was individuell wirklich sinnvoll ist.
Viertens wissen wir gar nicht mehr genau, was wir noch alles mitessen, wenn wir zehn Bananen essen. Die Umweltbelastung unserer Nahrung hat stark zugenommen. Wenn wir für Omega-3 Fettsäuren viel fetten Fisch aus dem Meer essen, essen wir auch Quecksilber mit. Genauso bei Rinderleber für B12 und Vitamin A. Was hat dieses Tier zu Lebzeiten über seine Leber verstoffwechselt? Das essen wir mit. Und Milch ist auch nicht mehr nur Milch, Eier sind nicht mehr nur Eier und das Brot ist auch nicht mehr nur Brot. Diese Grundnahrungsmittel sind anders geworden. Der Inhalt, die Verarbeitung, selbst die Quelle, die Pflanze, das Tier, der Boden, alles ist anders. Diese Grundnahrungsmittel, die uns über Jahrhunderte ernährt haben, unsere Großeltern über den Krieg gerettet haben, sind für viele von uns nicht mehr verträglich. Wieso? Warum verträgt keiner mehr das, was Deutschland immer gegessen hat: Brot, Milch, Käse und Eier?
Fünftens ist das Wort „Vitaminmangel“ auch etwas sehr Relatives. Ich lese die Laborberichte in meiner Praxis jetzt zum Beispiel viel feiner, als früher in der Klinik auf der Intensivstation. Dort ging es um das Nicht-Sterben und ab wann man welche invasive lebensrettende Maßnahme, wie zum Beispiel Dialyse beginnt. Da gelten ganz andere Werte und Leitlinien. Im Praxisbetrieb, bei jemandem, der organisch relativ gesund ist und lebt, gilt eher eine Sichtweise wie bei einem gesunden Hochleistungssportler. Was braucht dieser Körper je nach Befinden, um in seinem zellulären Energiestoffwechsel eine bessere Leistung abzuliefern? Da müssen die Werte von B12, Selen oder auch Vitamin A auf ein ganz anderes Niveau gebracht werden, als bei jemandem, der nur nicht sterben soll. Es reicht dann nicht, in der unteren Norm zu sein, es werden teilweise sogar Spiegel außerhalb der Norm benötigt. Nur weil ein Laborwert in Deutschland in der statistischen Norm liegt, heißt das nicht, dass die mittlere Norm der optimale Funktionswert ist. Manchmal sogar trifft das Gegenteil zu, vor allem wenn die Norm der Mangel ist (wie unter anderem bei Selen, Jod, B12 und Vitamin D). Wenn er dann noch präventiv sinnvoll sein soll, muss man verschiedene Werte miteinander vernetzen und zusammenführen, um eine therapeutische Empfehlung geben zu können.
Und sechstens zum Schluss nur noch ein Hinweis auf unseren Darm und dessen Darmflora, das Mikrobiom. Man stelle sich vor, wir haben 1,5-2 kg Bakterien & Co im Darm. Dieses Mikrobiom ist ein riesiges Chemielabor, das unsere Nahrung verstoffwechselt. Jeder von uns hat ein individuelles Mikrobiom und jedes arbeitet zum Teil anders. Viele Menschen haben eine gestörte Darmflora, das bedeutet, auch wenn sie sich gesund ernähren, kann es sein, dass der Darm und seine Bakterien nicht die Stoffwechselleistung erbringen, die notwendig ist, um die Zellen optimal zu versorgen. Übrigens stimmt es nicht, dass ein gestörter Darm Vitamine und Mineralien nicht resorbiert. Das tut er sehr wohl, wie schon in vielen Verlaufskontrollen im Labor nachgewiesen werden konnte, allerdings muss die Dosis stets individuell angepasst werden.