Das ganze Land, nein die ganze Welt ist mit Corona aus den Fugen geraten. Wer hätte Anfang 2020 gedacht, dass solch eine dramatische Veränderung in unser aller Leben möglich ist? Die Folgen sind enorm und in ihrer vollen Konsequenz noch lange nicht absehbar.
Momentan geht es uns hier in Deutschland, wo die Infektionszahlen im Vergleich zu vielen anderen Ländern auf der Welt niedrig sind, noch ganz gut. In dieser „Ruheposition“ ist es möglich, sich über das Leben „nach Corona“ oder besser das weitere Leben „mit Corona“ ein paar Gedanken zu machen. Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen unseres Lebens Schwächen in den entsprechenden Systemen offengelegt. Es sind Schwächen, die schon vorher da waren, aber entweder nicht bemerkt wurden, oder man wollte nicht, dass es jemand merkt, oder sie waren ohne Not nicht wirklich dringlich genug, um verändert zu werden.
Auch in unserem Gesundheitssystem bringt diese Viruspandemie mit ihrer Erkrankung Covid-19 viele wichtige Erkenntnisse ans Licht. Wir haben eine sehr gute intensivmedizinische Versorgung, viele Intensivbetten pro Einwohnerzahl, aber bei der Pflege hapert es. Das Personal wird nicht gut bezahlt und es gibt zu wenige Pflegerinnen und Pfleger für zu viel Arbeit und die Arbeit ist hart.
Es gab keine Schutzkleidung, keine Reserven, nichts war für Notzeiten gelagert, die Produktion der Masken selbst sogar nicht mehr in Deutschland vorhanden. Impfstoffe fehlen, der Impfstoff für Pneumokokken, der vom Robert-Koch-Institut Anfang März 2020 empfohlen wurde, war nach wenigen Tagen ausverkauft und bisher ist immer noch kein Nachschub in Sicht.
Die Patienten in den Altenheimen waren nicht geschützt. Man war bzw. wir waren auf diese Pandemiesituation nicht gut vorbereitet. Die alten Menschen, Eltern und Großeltern vereinsamten, konnten keinen Besuch von Kindern und Enkelkindern empfangen und – ganz schlimm –, wer in dieser Zeit gestorben ist, konnte seine Lieben nicht um sich haben. Kinder konnten sich nicht von den Eltern verabschieden, die Ehefrau nicht von ihrem Mann und umgekehrt. Auch die Beerdigungen im Lockdown waren der Horror, nur wenige waren zugelassen, gemeinsam trauern war nicht erlaubt.
Wir alle haben auch viel über Wissenschaft gelernt, wie sie funktioniert, ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen. Auf jeden Fall wurde klar, wie wichtig Wissenschaft ist, um herauszufinden, warum die Dinge so sind, wie sie sind, um dann für die Zukunft etwas Sinnvolles und Wirksames tun zu können. Aber wir haben auch gesehen, wie schwierig es ist, diese wissenschaftlichen Daten und Zahlen politisch in die praktische Umsetzung zu bringen. Was ist vernünftig, was ist sicher, wie weit müssen die Maßnahmen gehen, um uns zu schützen? Was bedeuten diese Zahlen für den Einzelnen und für das Land, die Welt? Epidemiologie und Virologie, Fächer, die vor Corona keiner beachtet hat, sind sehr stark in den Vordergrund gerückt, vielleicht zu stark. In den Talk-Shows gab und gibt es kaum ein anderes Thema. Viele Expertinnen und Experten waren zu sehen und zu hören.
Update – was ist bisher bekannt?
Wir haben gesehen, wie schwierig Prävention ist: Wenn im weiteren Verlauf nichts passiert, die Katastrophe also ausbleibt, weiß man nicht sicher, warum nichts passiert ist. Wäre es auch ohne Kontaktbeschränkung, ohne Masken und ohne Abstandsregeln gutgegangen? Oder waren die Bemühungen und Maßnahmen doch dafür verantwortlich? Ich denke, dass die Maßnahmen in Deutschland sinnvoll waren und sind. Das hängt zum Ersten damit zusammen, dass bei dieser SARS-CoV2-Infektion die Vermehrung der Viren im Rachenraum stattfindet und nicht, wie bei der ersten SARS-Infektion, in der Lunge und zum Zweiten kann man bei der SARS-CoV2-Infektion ansteckend sein, ohne selbst Symptome zu haben und man ist auch schon 1–2 Tage bevor Fieber und Husten auftreten, ansteckend. Auch das war bei der ersten SARS-Infektion und ist bei der Grippe-Infektion anders. Hier waren oder sind die Menschen krank und wissen dadurch selbst, dass sie zu Hause bleiben müssen. Das ist bei der derzeitigen Pandemie anders. Das bedeutet, die „Gesunden“, müssen sich so verhalten, als seien sie ansteckend für ihre Mitmenschen, auch wenn sie sich völlig o.k. fühlen. Studien haben gezeigt, dass das Tragen einer Maske, durch die sichere Verringerung der übertragenen Virusmenge, dazu führt, dass im Falle einer Infektion, der Verlauf der Erkrankung milder oder sogar asymptomatisch verläuft. Für mich ist die Frage nach dem Nutzen dieser Maßnahmen bei der SARS-CoV2-Infektion ganz gut geklärt und somit erst einmal abgeschlossen. Viel interessanter für die nächste Zukunft ist, wie es unter diesen Umständen global und regional weiter gehen soll, vor allem wirtschaftlich, aber auch zwischenmenschlich, wenn nicht schnell ein guter Impfstoff gefunden wird. Aber das ist ein anderes Thema.
Abgesehen von den gesellschaftspolitischen, epidemiologischen und wirtschaftlichen Überlegungen, wirft diese Infektion mit dem SARS-CoV2 und der Krankheit Covid-19 rein medizinisch betrachtet, sehr viele, sehr interessante Fragen auf. Diese Infektion und ihr Verlauf sind wirklich ungewöhnlich, medizinisch ein Rätsel. Warum sind die Verläufe dieser Coronavirus-Infektion so unterschiedlich? Der eine ist infiziert und spürt nichts, ist also asymptomatisch, der andere hat etwas Erkältungs-Symptome und der nächste erkrankt so schwer, dass er auf der Intensivstation beatmet werden muss und eventuell sogar stirbt. Je mehr Menschen die Erkrankung durchgemacht haben, desto mehr mehren sich jetzt auch Berichte über chronische Verläufe mit Folgeschäden nach durchgemachter Covid-19-Erkrankung. Abgesehen von den „normalen“ Folgeschäden, die so ein Aufenthalt auf der Intensivstation mit Beatmung nach sich ziehen kann, gibt es jetzt auch bei Menschen, bei denen die Krankheit relativ mild verlaufen ist, Anzeichen von post-infektiösen neurologischen Störungen oder Fatigue-Symptomen (Post-Covid-19-Syndrom).
Das alles kommt jetzt nur zutage, weil wir aktiv nach dem Coronavirus suchen. Es wird viel getestet, auch Menschen, die keine Symptome haben, und es wird global so viel geforscht, wie noch nie. Die Studien explodieren, jeden Tag gibt es neue Erkenntnisse über Zusammenhänge, die mit dieser Erkrankung zu tun haben. Solch eine Wissensexplosion gab es in der Medizin so noch nicht. Es gab schon Pandemien, aber noch nie hatte die Menschheit zum Zeitpunkt der Pandemie, die technischen Möglichkeiten, das Geschehen so genau und intensiv bis in die Zelle und ihre Einzelteile zu untersuchen. Zusammen mit den Möglichkeiten der Digitalisierung werden wir in der Medizin mit Covid-19 so viel Neues lernen, dass ich glaube, dass langfristig, vielleicht auch schon mittelfristig, grundlegende neue wesentliche Grundschritte in Richtung Gesundheit für alle gelegt werden können.
Wieso aber gibt es diese klinischen Unterschiede im Verlauf? Daran wird zwar geforscht, nur meiner Ansicht nach noch nicht genug. Viel mehr noch, muss man die Patienten, die einen gleichen Verlauf haben, genau und differenziert untersuchen – was verbindet sie? Oder was unterscheidet die Patienten, die beatmet werden müssen, von denen, die asymptomatisch sind? Gibt es genetische Unterschiede und/oder hat das Immunsystem ein anderes „Standing“ bei denen, die schwerkrank werden, im Vergleich zu denen, die keine oder fast keine Symptome haben? Gab es vielleicht bei denen, die gestorben sind, neben Alter, Adipositas und Vorerkrankungen vielleicht in den drei Monaten zuvor ein gemeinsames Ereignis? Eine Impfung oder ein Infekt?
O.k., es gibt schon bekannte Risikofaktoren und damit dann auch die sogenannten Risikogruppen: die alten Menschen, die mit chronischen Vorerkrankungen, wie Diabetes und Bluthochdruck, die Herz- und Nierenkranken, die sehr übergewichtigen und die, die ein schwaches Immunsystem haben. Männer scheinen ein größeres Risiko für einen schlechten Verlauf zu haben. Ab dem 50. Lebensjahr wird im Krankheitsfall signifikant mehr gestorben. Erstaunlicherweise sind es nicht die Lungenkranken, die sich fürchten müssen, es sind die Gefäßkranken, die ein hohes Risiko für einen schlechten Verlauf haben. Eine Thromboseneigung scheint eine Rolle zu spielen und auch die Blutgruppe scheint eine Rolle zu spielen (die Blutgruppe A soll statistisch ein höheres Risiko für einen schlechteren Verlauf haben und die Blutgruppe O sei schützend). Umgekehrt sind es die Kinder und die jungen Erwachsenen, die eher keine Symptome haben und so andere eben auch unbemerkt anstecken können.
Gibt es etwas, was wir tun können?
Das macht natürlich erst einmal Sinn: Die Älteren sind empfindlicher, kränker und versterben mehr. Die Jungen sind stabiler, gesünder und kommen körperlich besser zurecht. Aber die Frage ist doch: Warum ist das so und warum ist das bei Covid-19 so relevant? Wodurch machen sich das Alter und die Vorerkrankungen im Körper, an den Gefäßen und im Immunsystem bemerkbar? Was sind denn die „Alters-Faktoren“, die im Körper für einen schlechten Verlauf disponieren?
Wenn es da etwas Konkretes gibt, kann man das vielleicht doch präventiv durch irgendetwas verändern? Können wir etwas tun, auch wenn wir älter oder alt sind, um uns zu schützen, ergänzend zu Maske, Abstand, Hygiene, gesunder Ernährung, ausreichend Schlaf, Sport, Gewichtsreduktion und Einsamkeits-Coaching?
Gibt es neben diesen Alters-Faktoren, den Risikofaktoren und den chronischen Krankheiten nicht vielleicht auch schützende Gesundheits-Faktoren in unserem Körpersystem, die man fördern könnte? Faktoren, die, sofern vorhanden und gut eingestellt, mit darüber entscheiden, ob der Verlauf der Krankheit tödlich endet oder nicht? Denn es gibt junge Menschen, die sterben, und es gibt 100-Jährige, die überleben. Es muss also in unserem Körpersystem Faktoren geben, die auch unabhängig vom Alter entweder belasten und/oder vor einem schweren Verlauf schützen.
Ganz klar, viele der Risikofaktoren sind unveränderlich, wie unser Alter und unsere Vergangenheit mit chronischen Krankheiten und Diagnosen und auch unsere Blutgruppe. Das Gewicht ließe sich reduzieren und die Ernährung umstellen, aber das ist nicht so leicht und dauert.
Ganz wichtig: Wenn man chronische Krankheiten hat, sollte man diese jetzt sehr gut behandeln! Das heißt, wirklich, alles was geht, zusammen mit den Ärzten, medikamentös gut einstellen: den Blutdruck, die Blutfette, vor allem das proentzündliche LDL-Cholesterin, die Harnsäure, den Zucker, das Rheuma, den Infekt, das Asthma, die Osteoporose, die Herzkrankheit, die Nierenkrankheit, die Blutverdünnung, die Depression, den Schlaf und so weiter und sofort.
Bitte: nicht gerade jetzt beschließen, dass die schulmedizinischen Medikamente schlecht sind. Genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Es gibt mehr und mehr Hinweise dafür, dass die Patienten mit schon vorbestehender Therapie von Statinen, ASS, ACE-Hemmern, Sartanen und auch Cortison-Spray oder -Tabletten im Falle einer Covid-19-Erkrankung einen milderen Verlauf haben. Auch beim Post-Covid-19-Syndrom könnte es sein, dass die Gabe von ASS, Statinen und Cortison einen wichtigen therapeutischen Stellwert bekommt. Prospektive randomisierte Studien dazu gibt es noch nicht, aber für mich scheint das eine logische Konsequenz zu sein, denn man weiß mittlerweile sicher, dass bei einem schlechten Verlauf das überschießende körpereigene Immunsystem zu den lebensbedrohlichen Komplikationen der Covid-19-Erkrankung führt, und nicht primär der Virus selbst. Wenn also ein überaktives Immunsystem das Problem ist, das also zu viel Entzündungen „produziert“, dann sind entzündungshemmende Medikamente, wie ASS, Statine und Corticosteroide auch für die Therapie bei Covid-19 interessant.
Bahnbrechend für die Therapie schwerkranker Patienten auf der Intensivstation ist eine Studie aus Oxford (veröffentlicht im Juli im New England Journal of Medicine), die im Rahmen einer prospektiven randomisierten Studie gezeigt hat, dass die Gabe von Dexametason (ein Cortison-Medikament) maßgeblich den klinischen Verlauf bei diesen Schwerkranken verbessert. Die Mortalität konnte so deutlich reduziert werden.
Diese und andere therapeutisch wichtigen Erkenntnisse erklären unter anderem auch, dass die Sterberate bei der Covid-19-Erkrankung im Laufe der letzten Monate deutlich reduziert werden konnten, wenn denn eine gute intensivmedizinische Versorgung zur Verfügung steht.
Ist ein proaktiver Schutz des Immunsystems möglich?
Fassen wir zusammen: es bringt erstens etwas, sich vor massiver Virusexposition zu schützen mit Maske, Körper-Abstand und Hygiene, und zweitens ist die gute Einstellung persönlicher Risikofaktoren sehr hilfreich, um im Krankheitsfalle einen schweren Verlauf zu verhindern. Aber darüber hinaus: Gibt es nicht etwas, was wir zusätzlich jetzt proaktiv Schützendes tun können? Können wir unser Immunsystem stärken? Können wir im Vorfeld verhindern, dass wir bei Kontakt mit dem Virus erkranken? Ist es möglich, die überschießende Reaktion des Immunsystems auf das Virus zu verhindern oder zu modulieren? Geht das?
Wenn das geht, wäre es natürlich sehr wichtig, diese Möglichkeiten für die Risikogruppen zu nutzen, aber auch für die jüngeren 30–60-Jährigen wäre es hilfreich und beruhigend, wenn man präventiv etwas für ein starkes Immunsystem tun könnte. Diese Menschen müssen schließlich hinaus in die Welt, in den Beruf, in die Schulen und Krankenhäuser, in die Unternehmen, in die Ämter, Transportsysteme, Läden, Sportstudios, Hotels und Restaurants. Es ist nicht möglich, jede Arbeit ins „Home-Office“ zu verlegen. Wer sitzt dann im Supermarkt, wer macht sauber, wer kümmert sich um die Kinder, unsere Haare, unseren Körper, sein Geschäft, sein Restaurant, seine Firma?
Das ganze Geschehen ist medizinisch interessant. Es gibt also allgemeine und persönliche Risikofaktoren, die darüber entscheiden, ob aus Pech (die Infektion) Schicksal (Intensivstation) oder Glück (kaum Symptome) wird. Und das ist das, was ich schon vor Corona hier in meiner Praxis immer wieder feststellen konnte: Zwischen dem Glück im Pech oder dem Schicksal gibt es ein Gap, eine „Lücke“, die mit über die Zukunft entscheidet. Ist es in dieser Lücke ordentlich, dann gibt es einen guten Verlauf mit eher schwachen Symptomen, ist die Lücke unordentlich, krank, voll mit Müll, leer an „Aufräum- und Reinigungspersonal“, wird es schwer, im Falle einer Infektion einen Verlauf in Richtung Gesundheit zu gestalten. Deswegen ist meine Antwort auf diese Frage, ob es möglich ist, etwas aktives Schützendes für unser Immunsystem zu tun: ja! Es gibt dazu noch nicht die randomisierten prospektiven Studien bei Covid-19, aber es gab schon vor Corona gute Daten, was man machen kann, um zum Beispiel Infekte der oberen Atemwege zu reduzieren. Und dieser Coronavirus ist eine Infektion der oberen Atemwege. Aber dazu mehr in meinem nächsten Blog.