Insuffizienzen der Organe
Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz und Leberinsuffizienz, diese Begriffe gibt es sehr häufig als übergreifende Diagnosen in den Entlassungsberichten der chronisch kranken Patienten aus den Kliniken. Übersetzen kann man das Wort „Insuffizienz“ relativ passend mit dem Wort „Schwäche“. Die Funktion des betroffenen Organs oder Organsystems genügt nicht, sie ist zu schwach, um alle Organaufgaben richtig zu erfüllen. Die Organfunktion ist insuffizient. Man spricht dann in einfachem Deutsch bei Herz und Nieren von Herz- und Nierenschwäche, bei der Leber von Leberschwäche oder auch von einer Leberbelastung und bei der Lunge meistens von Atemnot.
Auch bei den Drüsen gibt es Insuffizienzen. Allen voran die Ovarialinsuffizienz, so bezeichnet man den normalen Funktionsverlust der Eierstöcke, mit dem die Frau um die 50 in die Wechseljahre kommt. Es gibt aber auch andere Drüseninsuffizienzen, die nicht in der Mitte des Lebens normal sind und die, wenn sie auftreten, zu ernsthaften Krankheitsbildern führen. Da ist zu nennen die Hypophyseninsuffizienz (ist selten, aber die gibt es), die Nebenniereninsuffizienz und die Pankreasinsuffizienz, übersetzt ist das eine Funktionsschwäche der Bauchspeicheldrüse. Man spricht bei den Drüsen auch gern von einer Unterfunktion, wie bei beispielsweise bei der Schilddrüse. Da heißt es dann Schilddrüsenunterfunktion oder Hypothyreose, wenn die Produktion der Schilddrüsenhormone nicht ausreicht, um einen gut funktionierenden Stoffwechsel zu gewährleisten.
Manchmal wird als Ausdruck für „schwach“ oder „nicht richtig funktionieren können“, auch das Wort „empfindlich“ benutzt, zum Beispiel bei der Haut spricht man von einer empfindlichen oder lichtgeschädigten Haut, nicht von einer schwachen Haut. Dagegen spricht man aber von einem schwachen Bindegewebe und bei der Muskulatur von einer Muskelschwäche. Bei den Knochen spricht man eher von dünnen Knochen. Man sagt auch nicht Knocheninsuffizienz, sondern bezeichnet den Verlust der Knochendichte (wichtige Funktion des Knochens) als Osteopenie und wenn der Knochendichteverlust stark fortgeschritten ist, als Osteoporose.
Normale Organschwächen im Laufe des Lebens
Jedes Organ wird immer auf seine gleiche Art und Weise schwach. Die Haut wird rot und dick und dann faltig und narbig, das Herz verdickt, bevor es erschlafft, die Leber verfettet sich entzündlich, bevor sie vernarbt, die Nieren vertrocknen und veröden und der Knochen löst sich auf, bevor er bricht. Das kann in einer akuten Krankheitssituation sehr plötzlich passieren und wenn der akute Auslöser vorbei ist, sich auch wieder fast zu 100 Prozent erholen. Meist entstehen diese Organinsuffizienzen aber chronisch im Laufe unserer Lebenszeit und sie sind Teil des natürlichen Alterungsprozesses.
Ja, das bedeutet, jede und jeder hat mit 80 Jahren ganz normal einen Verlust von Knochendichte, viele haben Osteopenie, wenn nicht sogar auch schon etwas Osteoporose, die Haut ist bei allen faltig und atrophisch (narbig/dünn), alle haben etwas Niereninsuffizienz, denn, die von Haus aus empfindlichen Nieren altern besonders gern (siehe mein Nieren-Blog), dazu oft etwas Herzinsuffizienz, außerdem eine Brille, etwas erhöhte Leberwerte, die Luft wird knapper und die Muskulatur ist schwächer geworden.
Das alles hört sich schrecklich an? Stimmt! Und unbedingt möchte ich mit besserer Prävention, also Vorbeugung und aktiver Gestaltung von Gesundheit, mithelfen, möglichst viele von diesen normalen Organschwächen zu Lebzeiten zu vermeiden oder in einem Anfangsstadium (auf-) zu halten. Aber erstens geht das (noch) nicht hundertprozentig (dann wären wir ja so etwas wie unsterblich) und zweitens gibt es zunächst eine gute Nachricht: Die moderne Medizin hat für fast alle diese „Organ-Schwachzustände“ wirklich sehr wirksame Therapien. Wir haben exzellente alte und neue Medikamente, verschiedene Ersatz-Geräte (zum Beispiel Dialyse, Herzschrittmacher und Endoprothesen), bis hin zu Organ-Transplantation ist sehr vieles möglich.
Ja, ist anstrengend und aufwendig und irgendwie auch schlimm, aber chronische Krankheiten, auf dem Boden von fortgeschrittener Organinsuffizienz sind behandelbar, nein, nicht heilbar, aber wirklich sehr gut behandelbar oder einstellbar. Man kann in unserer westlichen Welt heutzutage mit vielen chronischen Diagnosen sehr gut leben. Niemand muss bei chronischer obstruktiver Bronchitis ohne Lungensprays auskommen, bei der chronischen Herzinsuffizienz gibt es wirklich gute unterstützende Medikamente, auch bei Nieren-, Knochen- und Leberschwäche kann man so viel, vor allem in der Inneren Medizin, therapeutisch, insbesondere medikamentös, machen. Das ist auf jeden Fall schon einmal sehr beruhigend.
Beim Gehirn ist das ähnlich und doch ganz anders
Interessant ist, dass es über das Gehirn, das ja auch ein festes Organ in unserem Körper ist, zusammen mit den ganzen Nervenfasern, keine solche „Schwäche-Bezeichnung“ gibt. Wir gebrauchen in der Medizin nicht das Wort „Gehirninsuffizienz“. Es gibt keine Überlegungen zur körperlich bedingten Gehirnschwäche oder Gehirnempfindlichkeit. Es gibt hier keine Stadien und damit auch keine Therapie-Leitlinien der Neurologen und Psychiater zur Behandlung der milden oder fortgeschrittenen Gehirninsuffizienz analog zur Herz- und Niereninsuffizienz. Googeln Sie mal „Herzinsuffizienz“ und dann „Gehirninsuffizienz“ – das Wort gibt es nicht (Stand November 2020, bevor mein Blogbeitrag erschien).
Das ist komisch, denn genauso wie Herz, Nieren und Leber, altert oder leidet auch unser Gehirn und es wird im Laufe des Lebens auch schwächer bezüglich seiner vielfältigen Funktionen. Unser Gehirn kann genauso wie Herz oder Leber, mit dem, was ist und war, akut oder chronisch überfordert sein.
Was (über-)fordert unser Gehirn im Laufe des Lebens? Ganz einfach: Stress
Vielfältigster Stress belastet unser Gehirn unser ganzes Leben, Tag und Nacht, vor, in und nach der Geburt, privat in der Familie, beruflich, in der Stadt, gesund und krank, zusammen und allein, auf dem Weg zum Tod. Stress kann sichtbar sein, aber auch unsichtbar, er kann physisch, chemisch und physikalisch sein, mental, emotional und geistig, chronisch und akut, akustisch und visuell, finanziell und existenziell. Und ganz wichtig: Stress ist immer individuell.
Wie nennt man den Zustand, wenn nicht Gehirninsuffizienz oder Gehirnschwäche, wenn das Gehirn nicht mehr „normal“ mit Stress umgehen kann? Wir benutzen dafür, wenn alles zu viel geworden ist, egal ob absolut oder relativ, andere Worte, wie zum Beispiel „Lebenskrise“ oder „Burn-out“, was einem psychischen und körperlichen Zusammenbruch mit totaler Erschöpfung entspricht, nichts geht dann mehr. Der Mensch funktioniert als ganzes System nicht mehr, er oder sie kann nicht arbeiten und sich nicht um die Kinder kümmern. Selbst den eigenen Körper zu pflegen und zu nähren geht nicht mehr so richtig. Alles das, was normalerweise kein Problem ist, geht nicht mehr. In so einer Burn-out-Krise fühlen wir uns nicht gut, sind müde, energielos, traurig und haben Angst. Wir können nicht schlafen, nehmen ab oder zu, die Verdauung kann gestört sein, Schmerzen können auftreten und das Herz kann wie verrückt klopfen ohne Grund. Man sieht schlecht aus, hat Ringe unter den Augen und der Körper ist schwach.
Gehirninsuffizienz durch Stress
Nach Ausschluss einer Organkrankheit von Herz, Darm, Leber, Nieren und Immunsystem, wird dann zusammengefasst, dass es „Gott sei Dank“ nichts Organisches ist, sondern „nur“ etwas Psychisches. Und damit geht das große Missverständnis los: Man gibt den Betroffenen den Eindruck, es sei nichts im Körper gestört, es seien „nur“ die Umstände verantwortlich und damit müsse man lernen umzugehen. Oft wird den Patienten ihr Leid auch nicht geglaubt, denn wenn doch alle Organe o.k. sind, warum funktioniert man dann nicht richtig? Weil es einen Fehler in diesem Denken gibt. Es gibt ein Organ, das in dieser Situation krank ist, das alle diese Symptome herstellt oder zumindest nicht verhindert: Es ist das Gehirn, was da in Not ist. „Psyche“, sich nicht fühlen, das gestörte Befinden, das sind die Hauptsymptome für eine Gehirnüberforderung durch Stress, ganz im Sinne einer Gehirninsuffizienz.
Was sollen der Patient oder die Patientin machen, wenn er oder sie Stress hat? Die Antwort von uns Ärzten, den Therapeuten, den Freunden, den Eltern, den Ratgebern, den Coaches etc. lautet meist: „Bitte entspannen Sie sich, reduzieren Sie Ihren Stress (als würde der oder die Betroffene den Stress besitzen oder freiwillig verursacht haben)“ oder noch besser: „Reißen Sie sich zusammen und stellen Sie sich nicht so an“ (also würde das gehen oder reichen).
Wenn das mit dem Entspannen nicht geht, warum auch immer, wird den Psyche-Betroffenen empfohlen, eine Psychotherapie zu machen, um zum Beispiel im Rahmen einer Verhaltenstherapie zu lernen, wie sie mit dem Stress besser umgehen können. Das ist auf jeden Fall gut, wenn es sich um Stressauslöser handelt, die man ändern kann, oder bei denen es reicht, seine eigene Sichtweise auf die Stressauslöser zu ändern. Man kann die eigene Haltung ändern und damit die persönliche Sicht auf das, was ist und war. Man kann verstehen lernen, man kann (sich) bewusster werden, man kann das „Zuviel“ an Arbeit reduzieren oder effektiver gestalten, man kann auch aufs Land umziehen und sich vom Partner oder der Partnerin trennen. Und natürlich hilft es auch zu lernen, wie man etwas annehmen kann, was nicht zu ändern ist: ein Verlust oder eine schlimme traumatische Erfahrung. Das ist auf jeden Fall gut, aber es ändert sehr oft nichts an dem sich heute und morgen Nicht-gut-Fühlen, an dem Nicht-schlafen-Können, an der Lustlosigkeit oder dem Konflikt mit dem Partner. Es hilft auch nicht bei der Erschöpfung, die Psychotherapie ist oft anstrengend, sie kostet Kraft, sie schenkt keine Kraft, erst recht nicht, wenn der normale Alltag weitergeht. Und ganz erstaunlich:
Um das Gehirn als „erschöpftes und belastetes“ Organ, wird sich nicht gekümmert
Also was dann? Was, wenn das Befinden, also die Psyche gestört bleibt? Man hat verziehen, man hat verstanden und gelernt das Vergangene und das „Jetzt“ anzunehmen. Wer es schafft, meditiert, Sport macht, sich gesund ernährt, in Einzel- und Gruppentherapie war und geändert hat, was ging: weniger Alkohol, keine Zigaretten mehr, kaum noch Süß, wenig Gluten und trotzdem ist es nicht gut. Man bleibt erschöpft, müde und lustlos. Und was, wenn der Stressauslöser nicht zu ändern geht? Was dann? Nichts. Sehr oft bleiben dann die Psyche-Betroffenen mit Gehirninsuffizienz – ja, hier benutze ich mal das Wort, das es bisher noch nicht gibt – ganz allein zurück mit dem Gefühl, versagt zu haben, es nicht geschafft zu haben. Immer wieder haben sie alles versucht, aber es bringt nichts, sie fühlen sich weiter nicht gut, sind traurig, schlafen schlecht und fühlen sich zudem auch noch schuldig, weil immer der Eindruck erweckt wird und sie das auch glauben, es läge nur an ihnen selbst. Und damit möchte ich aufräumen, das ist ungerecht und falsch und den Betroffenen einfach nicht bewusst genug.
Genetisch bedingter Gehirnstoffwechsel
Zur Erklärung Folgendes: Wir können „Psyche“ als Symptom haben, einerseits aufgrund der Umstände (Konflikte, Zustand nach Trauma, Existenznöte, akuter und chronischer Belastung etc.), aber andererseits auch – und das ist jetzt wichtig – weil unser Gehirn als Organ – warum auch immer für diese Anhäufung von Stress zu schwach ist oder zu empfindlich, damit meine ich genetisch/biochemisch zu empfindlich, so wie eine zarte Haut in der Sonne. Die schottische Prinzessin mit der empfindlichen hellen Haut und den rötlichen Haaren muss auch nicht zum Psycho, wenn sie nach einem Ausflug aufs Land mit stundenlangem Ritt in der Sonne ohne Hut, den hatte sie vergessen, einen Sonnenstich hat mit Übelkeit und einem ganz schlimmen Sonnenbrand an Gesicht und Armen. Sie bekommt Wasser, eine kühlende Aloe-Vera-Creme und fürs nächste Mal einen Sun-Blocker, ein T-Shirt mit langen Armen, eine Sonnenbrille und einen Hut mit breitem Rand. Sie bekommt Schutz, Medizin, Flüssigkeit und gute Ratschläge, was das nächste Mal vor dem Ausritt zu tun ist. Die Eltern schimpfen, aber es war eben auch Pech. Sie ist nicht allein verantwortlich für das, was passiert ist.
Auch unser Gehirn ist ein Organ, so wie Herz, Nieren und Leber, das als Zell-Gewebe erworben oder genetisch bedingt zu schwach und zu empfindlich sein kann, um mit dem, was an Stress vorhanden ist, akut und chronisch, gesund (also ohne Störungen) umgehen zu können.
Warum ist das wichtig, sich bewusst zu machen, dass es nicht nur die Umstände, sondern auch die mangelnde Gehirnkraft, die Gehirnschwäche oder ein empfindlicher Gehirnstoffwechsel „schuld“ sein kann an der eingeschränkten Fähigkeit mit Stress umzugehen?
Verhaltensänderung allein reicht nicht
Weil, wenn es stimmt, dass es auch organische Gründe im Sinne einer Gehirninsuffizienz für die „ungute Psyche“ gibt, dann ist es logisch, dass der psychisch kranke oder gestörte oder gestresste Mensch, es „nur“ durch eine Verhaltensänderung allein nicht schaffen wird, die Symptome für eine gestörte Psyche loszuwerden. Vor allem, wenn der Stress bleibt.
Das ist so, wie als würde man von der Prinzessin mit der hellen Haut in der Wüste, ohne Hut und Schatten verlangen, keinen Sonnenbrand zu bekommen. Wie soll sie das denn machen ohne Schutz? Sie ist der Sonne hemmungslos ausgeliefert. Alle würden sie bedauern und sich liebevoll um sie kümmern, würde sie rechtzeitig vor dem Tod gefunden werden. Die Blasen und Verbrennungen an der Haut würde man behandeln mit spezieller Medizin, sie dürfte schlafen und sich ausruhen. Sie bekäme alles, was der Körper braucht, um sich zu erholen.
Wenn jemand Psyche oder Burn-out hat, ist das für die anderen nicht sichtbar. Burn-out kann man nicht sehen, so wie die verbrannte Haut bei der Prinzessin oder messen, wie Herzinsuffizienz in der Inneren Medizin über Geräte, Labor und Radiologie. Es bräuchte bei den Gehirnsymptomen mit „Psyche“ auch so etwas wie eine innere oder dermatologische Medizin für das Organ „Gehirn“, die dem Organ selbst hilft, den Stress und seine Folgen zu behandeln. Das Gehirn bräuchte Päppel-Medizin, es müsste neu eingestellt werden, wie der Blutdruck und die Herzfrequenz bei Herzinsuffizienz – das gibt es aber nicht in der klassischen Medizin. Warum das so ist und was Sie selbst tun können, das erfahren Sie in meinem nächsten Blogbeitrag „Gehirninsuffizienz – was tun?“.