Ärztliche und medizinische Befundberichte lesen und interpretieren ist eine Kunst. Je mehr klinische Erfahrung man hat, desto besser. Als Arzt muss man viele Befunde und Werte zusammen mit Patienten gesehen haben, um zu wissen, was wirklich wichtig ist. Als Patient steht man dieser Datenflut und den Fremdwörtern meist hilflos gegenüber, erst recht, wenn man krank ist. Selbst, wenn man dann im Internet recherchiert, weiß man immer noch nicht sicher, was gut und was schlecht ist, was das alles für einen persönlich bedeutet und schon gar nicht, was man nun tun soll. In den Praxen fehlt leider oft die Zeit, den Patienten alles genau zu erklären und vieles ist eben auch relativ – und je nach Fragestellung und individuellem Zusammenhang kann die Antwort ganz unterschiedlich ausfallen.
Meistens wird in der Medizin in der Bildgebung (Ultraschall, CT, MRT etc.), in der Labordiagnostik (von Blut, Urin, Stuhl etc.) und auch in der Funktionsdiagnostik (Belastungs-EKG, Schlaflabor etc.) „nur“ eine Ausschlussdiagnostik bezüglich einer bestimmten Fragestellung gemacht. Das bedeutet, man macht die Untersuchung, um eine bestimmte Krankheit oder Störung abzuklären. Ist Problem „X“ da oder nicht? Wenn diese bestimmte Sache „X“ (z. B. Darmkrebs in der Darmspiegelung), nach der gefragt wurde, nicht gefunden wird, heißt es meist kurz und knapp gegenüber dem Patienten, es sei alles o.k. So stimmt das aber nicht. Ja, Problem „X“ ist ausgeschlossen worden, aber trotzdem gibt es – „fein“ gelesen – viele Befunde und Fakten, die sich bspw. in einer Darmspiegelung noch zeigen können, die für den Patienten wichtig sind zu wissen, wie z. B. der Nachweis von Hämorrhoiden (würde in der Zukunft Blutbeimengung im Stuhl harmlos erklären), einer Rektozele (könnte Probleme beim Stuhlgang erklären), von Divertikeln im Sigma (könnten Unterbauchschmerzen links in Zukunft erklären im Rahmen einer Divertikulitis), einer Beckenbodenschwäche und so weiter und so fort. Alle diese kleinen Fakten hätten durchaus auch eine therapeutische Konsequenz, wie z. B. Beckenbodentraining bei Rektozele und Beckenbodenschwäche, wenn sie denn dem Patienten nur mitgeteilt würden. Und ganz wichtig, nur weil „X“ nicht gefunden wurde bei z. B. Verdauungsstörungen und Bauchschmerzen, heißt das ja nicht, dass mit der Information „X ist nicht da“ automatisch die Beschwerden, die zur Diagnostik geführt haben, verschwinden. Im Gegenteil, der Patient wird unsicher und fragt sich umso mehr, was er oder sie denn nun hat. Immer nur zu hören, was man nicht hat, ist schön, aber es „therapiert“ ja nicht.
Besonders interessant ist es mit Laborwerten, also Zahlen. Hier lässt sich mithilfe z. B. der Blutwerte natürlich feststellen, was an bestimmten Krankheiten nicht da ist, aber es lässt sich auch viel darüber sagen – wenn man fein viele Werte „ausliest“ – was alles da ist, wo „der Körper mit seinem Stoffwechsel steht“ und was daraus mit großer Wahrscheinlichkeit noch werden könnte, im Guten, wie im Schlechten. Labordaten sind relativ, sie müssen immer eingebunden werden in den Kontext des Patienten: Alter, bekannte Krankheiten, Therapie, Medikamente, ein Zusammenhang nach einer OP, Zeitpunkt der Blutabnahme (morgens oder nachmittags), war der Patient nüchtern oder nicht, gab es einen Infekt etc. Im Verlauf einer Schwangerschaft ändern sich z. B. die Laborwerte so sehr, dass – wenn man nicht wüsste, dass die Frau schwanger ist – man diese völlig fehl interpretieren könnte.
In der Praxis bekomme ich von Patienten, die neu zu mir kommen, meist sehr viele bereits durchgeführte Laborwerte gezeigt, die zwar nicht wirklich krank sind, die aber durchaus auch nicht richtig gesund sind. Und weil die absoluten Werte nicht krank sind, wird therapeutisch nichts gemacht. Man lässt die Patienten in dem Zustand von noch gesund oder halb krank, unter anderem weil es noch nicht lebensbedrohlich ist und weil die Leitlinien eine entsprechende Therapie oder weitere Abklärung nicht für nötig erachten. Diese Leitlinien sind aber nicht primär zum Wohle des einzelnen Patienten aufgestellt worden. Nein, sie sollen einerseits dem Unerfahrenen als Orientierung für seine Entscheidungsfindung dienen und andererseits sollen sie auch helfen, den ganzen Ablauf von Diagnostik und Therapie für eine große Gruppe von Menschen wirtschaftlich zu gestalten. Leitlinien beinhalten ganz bewusst keine maximale individuelle Diagnostik à la Dr. House und auch keine vollständige Behandlungsanleitung. Dieses Nicht-Beachten von vielen kleinen Schwächen oder Dysbalancen in den Laborzahlen führt dazu, dass Befunde, selbst wenn sie bestimmt worden sind, wie bspw. ein niedriger B12-Spiegel (unterer Grenzwert) und eine niedrige Folsäure, trotz Angabe von Schwäche und Müdigkeit nicht behandelt werden, wenn das Blutbild ohne Anämie noch in der Norm ist. Dass B12 auch andere Funktionsorte im Körper hat, die nicht im Blut gemessen werden können (ZNS, Nervenscheidewand) wird anscheinend vergessen oder ausgeblendet. Genauso ist es mit grenzwertigen Eisen- (Ferritin), Selen- und Zink- oder auch schwachen Schilddrüsenwerten. Das ist zum Verzweifeln, gerade wenn diese Laborwerte in ihrer Abweichung mit den Beschwerden, die die Patienten schildern, a) ursächlich durchaus zusammenhängen und b) sie behandelt werden können! Ja, der grenzwertig gemessene „Stoff“ ist in voller Fülle NICHT lebensnotwendig, aber die Behandlung im Sinne einer Optimierung der mangelnden Stoffe, kann helfen, das Befinden des Patienten zu unterstützen und zu verbessern.
Grundsätzlich sollten Risikowerte oder Werte, die auf eine Krankheit hindeuten, möglichst niedrig sein und Werte, die uns helfen gesund zu bleiben, möglichst hoch sein. Der muskelabhängige Nierenwert Kreatinin z. B. muss weit in der Norm sein. Ist das Kreatinin knapp über der Norm, bedeutet das, bei normaler oder etwas weniger Muskelmasse, dass schon 75 % also ¾ der gesamten Nierenglomeruli (da wird das Blut „gewaschen“) nicht mehr funktionieren. Also eine und eine halbe Niere arbeiten nicht mehr, wenn das Kreatinin nur knapp über dem oberen Referenzwert liegt. Das ist ein gravierender Befund, der in der Nephrologie durchaus gedankliche und praktische Konsequenzen hat, die jetzt auszuführen, zu weit führen würde. Genauso ist es mit LDL-Cholesterin, Langzeitzuckerwerten (HbA1c), Harnsäurewerten, Leberwerten (gGt, GPT) und einem Wert für Herzinsuffizienz (BNP). Die müssen niedrig sein oder weit unten in der Norm.
Genau andersrum ist es bei den Werten, die uns zu guter zellulärer Leistung verhelfen (Vitamine, Mikronährstoffe, Aminosäuren etc.). Bei diesen guten Werten für Funktion ist die normale Referenz (= der statistische Mittelwert von allen hier in Deutschland Lebenden) zwar für das Überleben genug, aber zum Fitsein oder für die Therapie eines schon vorhandenen Problems nicht genug.
Manche Stoffe, wie z. B. Selen müssen über dem oberen Normwert sein, wenn sie richtig Wirkung haben sollen, da unsere Norm in Deutschland dem normalen Selenmangel entspricht. Gerade, wenn Selen von den Zellen gebraucht wird (z. B. bei Schilddrüsenunterfunktion mit L-Thyroxin-T4-Therapie), reichen normale „schlappe“-Spiegel nicht, um einen spürbaren therapeutischen Effekt (messbar mehr Bildung von fT3) auszulösen.
Es wird heutzutage so viel gute Diagnostik gemacht, sowohl im Labor aus vor allem Blut, wie auch in der Bildgebung in der Radiologie. Bedauerlich ist, dass nur einzelne Informationen aus diesen ganzen Daten weitergeleitet werden an die Patienten und nur ein klitzekleiner Teil des therapeutischen Potentials aus den Daten genutzt wird. Was für eine Verschwendung von Power.