Liebe Patientinnen und Patienten,
die Corona-Pandemie verändert derzeit unser aller Leben. Viele von uns sind stark verunsichert, was und wem sie glauben können und wie es für uns alle weitergehen kann.
Wir alle sind nun gefragt, uns Gedanken zu machen. Hierfür brauchen wir Anregungen, verschiedene Positionen und einen Austausch: Wie weit sollen wir zum Schutz der Einzelnen und des Gesundheitssystems gehen? Wie groß ist auf der anderen Seite der gesundheitliche Schaden den Menschen durch Angst, Panik und Isolation und durch den Verlust der Arbeit bzw. ihrer Existenzgrundlage erleiden? Was werden die globalen Folgen für die Wirtschaft und uns alle sein?
Diese und viele ähnliche Fragen beschäftigen uns.
Als Keynote für eine weitere Diskussion poste ich heute die Stellungnahme eines erfahrenen Arztes, anerkannten Wissenschaftlers und Forschers. Er hat viele medizinische Veröffentlichungen und Bücher geschrieben. Er hatte über 26 Jahre hier in Berlin den Lehrstuhl für Dermatologie an der Freien Universität Berlin inne, er hat in den frühen 80ern die HIV-Problematik von Anfang an miterlebt und erforscht, er war viel im Ausland und hat u. a. in Tansania/Afrika gelehrt und ehrenamtlich gearbeitet. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen allen in diesen Zeiten,
Ihre
Dr. med. Helena Orfanos-Boeckel
SARS-CoV-2-Infektion in Deutschland
Ein Kommentar von Prof. Dr. med. Constantin E. Orfanos
vom 27. März 2020
Die SARS-CoV-2-Infektion ist im Frühjahr 2020 ein großes Problem in Europa geworden, das neue oder in jedem Fall neuartige Corona-Virus hat sich überall schnell ausgebreitet, die großen europäischen Kulturländer Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien sind ausnahmslos stark betroffen und reagieren mit drastischen Maßnahmen auf eine Infektion, die die WHO inzwischen als Pandemie eingestuft hat.
Die Infektion
Obwohl zurzeit relativ wenige zuverlässige Daten über das neue Virus vorliegen, das Meiste wurde über die Medien bekannt, wissen wir, dass seine Infektiosität hoch ist, eine Übertragung über die Luft möglich und das Virus sich auch an Oberflächen bis zu 72 Std. stabil halten kann (Haltegriffe, Klinken aus Plastik oder Metall), auch wenn die Virustiter sich fortlaufend signifikant reduzieren. (1) Vieles spricht dafür, dass das neue Virus, als es im vergangenen Jahr in China erstmalig als solches erkannt wurde, bereits stark ausgebreitet war. Nicht dokumentierte Infektionen waren offenbar die Infektionsquelle von 79 % der dokumentierten Erkrankungen. (2) Bei einer Infektion mit dem neuartigen SARS-CoV-2 müsste man klinisch die Manifestation einer influenza-artigen Erkrankung erwarten, von der WHO inzwischen Covid-19 genannt, wobei in 10–15 % der Erkrankungsfälle mit einem schweren Verlauf zu rechnen ist. Dieser Teil der Kranken bedarf der Versorgung in einem Krankenhaus, einige davon auf einer Intensivstation. Die Letalität, also der tödliche Verlauf, des Virus dürfte bei 0,25–1,0 % liegen, doch der Anteil der Kranken, die mit, oder an einer SARS-CoV-2-Infektion sterben, also die aktuelle Sterberate im infizierten Kollektiv, ist von Land zu Land sehr unterschiedlich.
In China betrug sie immerhin fast 4 %, in Italien bis zu 5–9 %, in Deutschland ist sie derzeit nicht höher als 0,5 %.
Die Ursachen der signifikanten Unterschiede sind nicht geklärt, möglicherweise sind dafür mehrere Faktoren verantwortlich zu nennen:
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a) Die Dunkelziffer von nicht erkannten oder nicht registrierten Fällen, also die Zahl unerkannter, meist asymptomatischer oder oligosymptomatischer Träger des Virus, die sehr hoch sein kann;
b) Das durchschnittliche Alter der betroffenen Bevölkerung (in Italien sehr hoch, über 21 Mio. Menschen sind über 65 Jahre alt), wobei die Überalterung einer Population und die damit verbundenen Komorbiditäten, also die Begleiterkrankungen, schwere Verläufe begünstigen;
c) das soziale Verhalten der betroffenen Population;
d) Gruppeninfektionen in Senioren- und Alteneinrichtungen;
e) eine ungenügende klinische Versorgung, etwa durch Unkenntnis oder durch vorherige massive Einsparungen im Gesundheitswesen;
f) die klimatischen Verhältnisse, die Reinheit der Luft (Luftverschmutzung)
g) und andere regionale Faktoren.
Europa ist heute zweifellos der Hauptfokus dieser unerwarteten Pandemie, wobei vor allem Italien mit außerordentlich vielen Fällen und schweren Verläufen stark betroffen ist. Die bedauerliche Situation in Italien, in der Lombardei speziell in der Gegend um Bergamo, muss man als Sonderfall ansehen, zu dem viele ungünstige Umstände im Zusammenspiel beigetragen haben. (3) In Deutschland hat man bis heute über 42.000 Fälle einer SARS-CoV-2-Infektion registriert, der größte Teil der klinisch Erkrankten ist inzwischen geheilt. Etwa 260 Patienten waren älter, auch anderweitig erkrankt bzw. gesundheitlich belastet und starben.
Die Zahl der registrierten Infektionen nimmt derzeit in allen europäischen Ländern relativ schnell zu. Demgegenüber in China, wo die Infektion zu allererst aufgetreten ist, ist die Lage nach etwa 10–12 Wochen stabilisiert, die Sperrungen von Großstädten und Regionen, die anfangs betroffen waren, werden aufgehoben, die in größter Eile bereitgestellten Hallen mit den vielen aufgestellten Krankenbetten werden abgebaut bzw. geräumt. Die traditionelle Handelsmesse in Kanton wird Mitte April stattfinden, wie geplant, die chinesischen Industriebetriebe sind heute bereits zu 70 Prozent am Laufen. Das Beispiel Chinas zeigt, dass man durch kluge und gezielte Maßnahmen, dort wo es nötig war, die straff organisiert und strikt kontrolliert werden, die Ausbreitung der Infektion innerhalb relativ kurzer Zeit zu beherrschen ist. Unter anderem hat man die Brutstätten der Infektion, die sogenannten hotspots, frühzeitig strikt abgeriegelt. Dabei hat man die Sperrungen der betroffenen Millionenstädte vonseiten der chinesischen Regierung anfangs belächelt, manche meinten, so etwas ließe sich nur „in einer Diktatur“ machen …
Reaktionen der Gesundheitsbehörden in Deutschland
Die Infektionswelle mit einem neuen SARS-Virus hält Deutschland in ihren Fängen. Die Politik greift zu drastischen Maßnahmen und bereitet andere vor, nicht etwa um die Durchseuchung zu vermeiden oder einzuschränken, sondern um ihre Ausbreitung zu verlangsamen. Man befürchtet, dass bei einer schnellen Ausbreitung der Infektion, die man ohnehin erwartet, unser Gesundheitssystem überfordert wäre, weil wir dann zu wenig Krankenhausbetten, nicht genügend Ärzte und Krankenpflegepersonal hätten, um die vielen schwer erkrankten Patienten zu versorgen. Man vermutet, dass die vorhandenen 28.000 Betten auf Intensivstationen in Deutschland für die schweren Verläufe nicht ausreichen und sehr viele, vor allem ältere Patienten sterben würden, bei Weitem mehr als bei einer üblichen Grippewelle (bis zu 15.000/Jahr, bei schweren Grippewellen etwa das Doppelte).
Die Frage, ob diese Einschätzung der Sachlage richtig ist, das heißt, ob wir alsbald mit einer sehr hohen Zahl von Covid-19-Patienten zu rechnen haben, die im Krankenhaus versorgt werden müssten, manche davon auf Intensivstationen, sodass wir Versorgungsengpässe hätten, ist derzeit nicht mit Sicherheit zu beantworten. Als beste Strategie zur Bekämpfung der Pandemie scheint den Verantwortlichen in Deutschland darin zu bestehen, die Kontakte zu mindern, die Ausbreitung zu verlangsamen und damit die Epidemie zu strecken und die Zahl der zu erwartenden Schwerstkranken auf einen längeren Zeitraum zu verteilen.
Maßnahmen müssen zweifellos akut getroffen werden, doch im Verlauf müssen auch die möglichen Szenarien wissenschaftlich näher beleuchtet und ihre Wirkung überprüft werden. Über die Fälle in China sind erste wissenschaftliche Publikationen erschienen, über die Details des Kollektivs und die näheren Umstände in Italien wissen wir noch recht wenig. Wenn man die heutigen Zahlen der infizierten und der schwer erkrankten Patienten in Deutschland zugrunde legt, sind wir jedenfalls zurzeit von einer vergleichbaren Notlage weit entfernt.
Die Maßnahmen, die getroffen wurden, waren bzw. sind folgende:
1. Um die Übertragung des Virus und die Ausbreitung der Infektion zu mindern, beschloss man in Berlin als Erstes strikte allgemeine Maßnahmen: Schulen, Universitäten, alle Sportstätten, fast alle Geschäfte, Kneipen, Bars und Restaurants, später auch Friseur- und Kosmetiksalons, Fitnessstudios etc., ebenso sämtliche Kultureinrichtungen einschließlich aller Museen wurden geschlossen. Aufführungen in Kunst- und Kulturstätten, Konzert- und Opernhäuser, Theater und Kinos wurden ausgesetzt, die Verkehrsverbindungen ausgedünnt, die Landesgrenzen der EU-Länder weitgehend dichtgemacht. Selbst Kirchen und andere Gotteshäuser, also Orte, wo gläubige Menschen in Notsituationen Hilfe suchen können, wurden zugemacht, Gottesdienste finden nicht mehr statt. Auch Friedhofskapellen werden geschlossen, Ansammlungen von Menschen bei Begräbnissen sind nicht mehr gestattet. Eine generelle Ausgangssperre wird nach wie vor diskutiert bzw. sie wurde regional bereits angerordnet.
2. Als Zweites wurden medizinisch zielgerichtete Maßnahmen getroffen und weitere sind geplant bzw. angedacht:
In Krankenhäuser werden Abteilungen umgesetzt und Bettenstationen geräumt, um sie im Bedarfsfall für die Notaufnahmen zu nutzen, die man zurzeit nicht hat, aber erwartet. Krankenhausaufenthalte für chronisch Kranke oder für planbare Operationen werden verschoben, zusätzliche Betten in Containern werden vorbereitet, Intensivstationen werden besser ausgestattet und erweitert (14.000 zusätzliche Intensivbetten sollen inzwischen vorliegen), damit man auf die Notfälle, die man erwartet, vorbereitet ist. Selbst der schnelle Aufbau von Notfallkrankenhäusern in Messehallen wurde angekündigt. Es wird schon vorauseilend vorgeschlagen, pensionierte Ärzte zu reaktivieren und auch Studierende bei der künftig notwendigen Krankenversorgung der vielen Patienten, die demnächst kommen sollen, einzusetzen. Im Tagesablauf finden in den Krankenhäusern unter dem verantwortlichen Personal keine persönlichen Gespräche mehr statt, geschweige denn Vorträge, Konferenzen, interdisziplinäre Sitzungen – alles erfolgt per E-Mails, SMS, Telefon oder Video. Die Infektionsabteilungen haben genügend zu tun, die meisten anderen klinische Fächer stehen vor leeren Stationen und weitgehend leeren OP-Räumen.
Die genannten Maßnahmen wurden getroffen bzw. weitere werden geplant, um einen evtl. Ansturm von Schwerkranken, der künftig kommen könnte, adäquat zu versorgen, und, wie die politisch Verantwortlichen betonen, „Menschenleben zu retten“. Dies ist zweifellos auch die Politik der WHO. Länder außerhalb Europas nehmen die Maßnahmen in Deutschland zum Modell (z. B. Ägypten). Andere europäische Länder bedienen sich anderer Strategien zur Dämmung der Pandemie, beispielweise das Konzept einer Herdenimmunität (Holland). Divergierende Vorstellungen gibt es auch in den USA, in Kanada, in Brasilien und Russland, um einige zu nennen.
Folgen
Die Wirkung der getroffenen Maßnahmen auf das gesamte soziale Gefüge der Gesellschaft, das Geschäftsleben und das Leben überhaupt ist inzwischen dramatisch:
Wirtschaft, Großindustrie und internationaler Handel stehen praktisch still, das Konsumverhalten im Inneren ist erlahmt, sämtliche Bildungseinrichtungen sind geschlossen, Kultureinrichtungen haben den Betrieb eingestellt, Handwerksbetriebe wissen nicht, wie sie sich über Wasser halten sollen, Kunst- und Kulturschaffende sowie Kreative sind arbeitslos. Deutschlands Kulturlandschaft, auf die man so stolz war, ist lahmgelegt, wenn nicht gar tot. Wie wird man sie wieder aufbauen können und wann? Jegliche Unterhaltungsmöglichkeit für die Bevölkerung fehlt, in den Medien sind nur noch Horrornachrichten und Solidaritätsappelle zu lesen. Soziale Kontakte in kleinsten Gruppen, selbst im Freien, werden als „nicht solidarisch“ deklariert und sind unerwünscht, untersagt, teilweise gänzlich verboten. Reisen sind nicht möglich. Handelsmärkte und die Börse stehen unter massivem Schock, die Verluste gehen in die Hunderte von Milliarden.
Die deutsche Bevölkerung, die derartige Dinge seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat, wird aufgefordert, zu Hause zu bleiben und „Solidarität“ zu üben, das heißt, all ihre sozialen Kontakte einzustellen. Die Menschen haben zunächst teilweise panikartig reagiert, die Regale der Supermärkte geleert, sich Desinfektionsmittel besorgt, auch Diebstähle kamen vor. Briefträger beklagten, dass die Adressaten Brief- und Paketsendungen nicht von der Hand entgegennahmen. Fahrgäste liefen mit Desinfektionstüchern herum und putzten Klinken und Handgriffe in den S- und U-Bahnen und in den Bussen. In den Krankenhäusern herrschen aus unterschiedlichen Gründen teilweise chaotische Zustände, chronisch Kranke werde nicht aufgenommen, planbare Operationen werden verschoben, die Betten werden umgewidmet und stehen leer in Erwartung der schweren Fälle. Die Arztpraxen werden von den Patienten aus Angst vor Infektion nicht mehr besucht, bei einigen klinischen Nebenfächern ist das Patientenaufkommen um bis zu 90 % reduziert.
Inzwischen hat sich die Situation zwar etwas gebessert, aber insgesamt wurde das gesamte gesellschaftliche und geschäftliche Leben des Landes abrupt und in einer mit Phobien und Existenzängsten besetzten, bisher unbekannten Art und Weise massiv eingeschränkt, das Sozialleben der Bürgerinnen und Bürger durch die verfügte Kontaktsperre auf praktisch null reduziert. Wird der erwartete Ansturm von Schwerstkranken kommen? Wird das deutsche Gesundheitssystem demnächst so massiv überfordert, dass der Ansturm nicht zu bewältigen und ist die Gefahr so groß, dass diese rigorosen, das gesamte Leben massiv einschränkenden Präventionsstrategien, die ein großes Industrieland und dessen arbeitende Bevölkerung völlig lahmlegt, zwingend notwendig sind? Darüber müsste man zumindest nachdenken, gründlich abwägen und darüber reden, vielleicht auch streiten.
Kommentar
Die Ausbreitung der SARS-CoV-2-Infektion ist in Deutschland wie auch in anderen EU-Ländern voll im Gange. Da sich das Risiko einer Übertragung nicht minimieren lässt, versucht man durch Organisationsmaßnahmen, die die Bewegung der Bevölkerung stark einschränken und bis zu kompletten Ausgangsperren reichen, die Ausbreitungstendenz zu verlangsamen und gleichzeitig der Bevölkerung das Gefühl zu vermitteln, dass man auf alles vorbereitet ist und die Lage kontrolliert. Damit wird eine gewisse Sicherheit suggeriert, wovon manche ehrgeizige Politiker fleißig Gebrauch machen. Ist aber die Gefahr für die Gesellschaft so groß, dass ein großes, wichtiges Industrieland praktisch zugemacht wird, ist das kein „overshooting“?
Kann man auf die menschlichen Kontakte und die persönliche Zuwendung lange verzichten? Man sollte nicht denken, dass die modernen Kommunikationsmittel ausreichen. Gerhart Baum mahnt, wir sollten uns nicht davon „verführen lassen und sie bedenkenlos anwenden“. (4) Dass man im medizinischen Bereich alle technischen und personellen Reserven, die möglicherweise künftig gebraucht werden, mobilisiert, Intensivstationen besser ausstattet und erweitert, evtl. auch Behelfskrankenhäuser schnell aufstellt und einrichtet etc. ist in Anbetracht der schweren Verläufe, die auftreten können, eine gute, nachvollziehbare Vorsorge. Ebenso notwendig erscheint die milliardenschwere, vielseitige, arbeitsrechtliche und kräftige wirtschaftliche Unterstützung aller betroffenen Wirtschaftszweige, wie Hotelgewerbe, Luftfahrt und Tourismus sowie Kleingewerbe, Handwerk etc. Der Staat kann dafür seine Reserven nutzen.
Das Ausmaß der verfügten Präventionsmaßnahmen auf das reale Leben der Menschen, insbesondere der arbeitenden Bevölkerung in einem wichtigen Industrieland, ist aber gewaltig und in Anbetracht der bisherigen Zahlen zumindest zu hinterfragen. Die Politik stellt als Präventivmaßnahme das gesamte soziale Leben im Lande ein. Zweifellos erfolgt dies nicht aus freien Stücken, sondern aufgrund von Empfehlungen erfahrener Virologen. Sie vermuten, dass die Infektion mit dem zweiten SARS-Virus sich nicht selbst bremst und – bis eine Herdenimmunität auftritt – die Gesundheitssysteme überfordern wird. Man solle daher das Zeitfester nutzen und die Ausbreitung mangels Kontakte unterbrechen, um Situationen wie in Italien möglichst auszuschließen.
Allerdings sind heute die Menschen in Deutschland, vermutlich auch in anderen europäischen Ländern, dermaßen stark verunsichert, dass die psychologischen Auswirkungen und die Existenzängste gravierend sind. Die Menschen haben
– Angst vor dem Neuen und Unbekannten,
– Angst vor dem Unsichtbaren,
– Angst vor der wachsenden Gefahr, und
– Angst, weil man offensichtlich unfähig ist, etwas dagegen zu tun.
In Deutschland dürfte dazu kommen, dass, wie aus anderen Untersuchungen bekannt ist, die Risikokompetenz der Menschen gering ist. Auch neigen Massen ohnehin zu hysterischen Reaktionen, vor allem wenn eine sehr agile Presse eine geeignete Realität dafür schafft. Prof. Ortwin Renn, Direktor des Instituts für Transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam, hat in einem Radiointerview festgehalten: „Medien reagieren auf die soziale Wirklichkeit, nicht auf die Wirklichkeit selbst“. Das bedeutet, dass die Medien weniger auf die Fakten, sondern vielmehr auf die Sicht reagieren, die die Menschen auf diese Fakten haben. Genau dies hat bereits der griechische Philosoph Epiktet, der sich für die Autonomie des Menschen aussprach, bereits vor 2000 Jahren klar formuliert:
Ταράσσουν δέ τούς ἀνθρώπους οὐ τά πράγματα, ἀλλά τῶν πραγμάτων δόγματα.
(Doch nicht die Dinge selbst regen die Menschen auf, sondern ihre eigene Sicht über die Dinge.)
Mit dem Unterschied, dass es zur Zeit Epiktets keine Presse gab und jeder Mensch seine Sicht (also seine δόγματα) durch seine eigene Erfahrungen und sein autonomes Denken bildete. Heute wird die eigene Sicht in hohem Maße, zuweilen fast ausschließlich, durch die Medien geprägt. Und die Medien sind fleißig dabei, die Ängste zu schüren.
Das Befinden der Menschen, ihr naturgemäßer Bedarf nicht nur an Nahrung, sondern auch an sozialen Kontakten, an Bildung und Unterhaltung, an Kunst und Kultur wird durch die massiven präventiven Vorgaben zur Verlangsamung der Ausbreitung der Infektion innerhalb von wenigen Tagen auf praktisch null herunterreguliert. Aristoteles hat den Menschen als ζόον πολίτικον, also als „soziales Wesen“ bezeichnet (Homo politicus, Homo socialis). Wenn er dies noch heute ist, wie lange kann der Mensch auf all diese Bedürfnise verzichten? Geht das ohne seelischen Schaden? Wenn das gesamte Geschäfts- und Gesellschaftsleben eines Landes einschließlich Handel, Handwerk, Wirtschaft und Industrie im höchst denkbaren Maße eingeschränkt und Ausgehverbote erlassen werden, berührt das auch die Menschen- und die Bürgerrechte. Derartige Maßnahmen erlebt man erstmalig nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Reparatur der ökonomischen und psychologischen Kriegsschäden hat mehrere Jahrzehnte gedauert und viel Geld gekostet. Über solche Folgen wird derzeit nicht genügend gesprochen. Langfristige gesellschaftliche und psychologische Probleme, die daraus entstehen, werden allzu wenig bei den Entscheidungen berücksichtigt, dabei könnten die drakonischen Restriktionen schwere Schäden bei der europäischen Bevölkerung bzw. in Bezug auf das Leben in Europa hinterlassen.
Eine wirtschaftliche Rezession kann nicht ausgeschlossen werden, trotz der finanziellen Hilfen, die die Regierung in zugegebenermaßen bewundernswerter Eile beschlossen hat. Prof. Karin Mölling, eine der erfahrensten und namhaftesten deutschen Wissenschaftlerinnen, die sich mit der HIV-Pandemie befasste, hat vor übertriebenen Restriktionen gewarnt und sich für Angemessenheit in den Maßnahmen ausgesprochen. (5) Diese Möglichkeit, verbunden mit einer kritischen Stellungnahme und alternativen Überlegungen zum Vorgehen, vertritt für die Vereinigten Staaten auch Dr. David L. Katz, Präsident der True Health Initiative und Direktor des Yale-Griffin Prevention Research Center in seinem Artikel in der New York Times. (6)
Gerade China zeigt, dass das Ganze auch anders verlaufen kann. Die unglücklichen Umstände in Italien wirken auf alle zurecht abschreckend. Mit der Situation in Deutschland sind sie aber nicht vergleichbar. Nach Vollbremsung der Pandemie kehren jetzt die Chinesen schnell und pragmatisch zur Normalität zurück, in Italien bzw. im Süden Europas könnte es sein, dass danach die Lebensfreude „explodiert“, wie man hier und da lesen konnte. In Deutschland wird aber der wirtschaftliche Schaden der Lokomotive Europas lange andauern und beachtlich sein, die psychologische Belastung und Verarmung der Bevölkerung wird langfristig und tief wirken. Insgesamt, die Befürchtung besteht, dass der Gesamtschaden bei Weitem größer und gewichtiger sein könnte, als derjenige durch die Pandemie.
Was ist zu tun?
Auch wenn diese tief in das gesellschaftliche und soziale Leben der deutschen Bevölkerung eingreifenden Maßnahmen temporär notwendig sind, muss man ihre Wirkung frei von Emotionen nüchtern analysieren. Der Folgeschaden für Deutschland wird langfristig und massiv sein, vermutlich massiver als der medizinische Schaden der Pandemie.
Vonseiten der Politik müsste man jetzt neben Virologen und Epidemiologen, auch Immunologen, Soziologen, Sozialpsychologen, Pädagogen, Theologen, Ethiker, Risikoforscher, Wirtschafts- und Gesellschaftsexperten sowie andere Geisteswissenschaftler heranziehen, einen Pandemie-Rat gründen, der den Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik helfen sollte, das weitere Vorgehen zu steuern, die Kollateralschäden dieser einmaligen, blitzartigen „shutdown-Aktionen“ zu beleuchten und mögliche Schäden zu reparieren. Es sollte noch intensiver darüber nachgedacht werden, wer, wann, wo und in welchem Umfang getestet werden soll, Immunologen müssen die Möglichkeiten einer schnellen Erlangung einer Herdenimmunität gegen das neue Virus aufschlüsseln. Wann können die Kinder wieder in die Schule, die Studierenden an die Universitäten, die arbeitende Bevölkerung wieder zurück an ihren Arbeitsplatz, die Alten in Quarantäne? Die Beratung durch die Virologen, die Maßnahmen der Gesundheitspolitik und die finanziellen Hilfen des Finanzministeriums allein werden nicht ausreichen. Das Vorgehen darf nicht nur auf die Bedürfnisse potenzieller Kranker und deren Versorgung, sondern auch auf die gesellschaftliche Abläufe und Ansprüche aller Bürgerinnen und Bürger angepasst werden, auch auf die, die gesund bleiben und arbeiten. Darin liegt die Zukunft des Landes und seiner Bevölkerung.
Die Folgen der getroffenen Maßnahmen sind abzuwägen und eine Traumatisierung der postmodernen Gesellschaft, der es an Grundfesten mangelt und die ohnehin stark verunsichert ist, muss verhindert werden.
Das deutsche Gesundheitssystem ist intakt und lässt sich finanziell weiter ausbauen, diejenigen die hierin tätig sind, sollte man unterstützen und stärken. Die Dauer der restriktiven Maßnahmen für die Bevölkerung, den Handel, die Wirtschaft und die Industrie muss aber möglichst kurz gehalten werden. Die Kraft Deutschlands als ,Lokomotive‘ Europas, die in kürzester Zeit massiv beschädigt wurde, muss schnell wieder aufgerichtet werden. Eine langfristige Rezession Deutschlands und Europas wird nicht nur den Kontinent treffen, sondern auch die Bevölkerungen von Drittländern, von Asylsuchenden und Flüchtlingen, von Schwachen und Kranken weltweit. Deutschland hat eine besondere Verantwortung, das deutsche Vorgehen wirkt als Modell für viele andere Länder.
Quellen
(1) Van Doremalen et al., „Aerosol and Surface Stability of SARS-CoV-2 as Compared with SARS-CoV-1“, in: NEJM 2020, DOI: 10.1056/NEJMc2004973 [Zugriff am 28.03.2020].
(2) Li R et al., „Substantial undocumented infection facilitates the rapid dissemination of novel coronavirus (SARS-CoV2)“, in: Science, 16. März 2020, DOI: 10.1126/science.abb3221 [Zugriff am 28.03.2020]. Siehe auch der Chefarzt der Infektiologie des Kantonsspitals St. Gallen, Prof. Dr. med. Pietro Vernazza, „Vielleicht 90 % von Coronainfektionen unbemerkt!“, 20. März 2020 [Zugriff am 28.03.2020].
(3) Siehe Mario Calabresi/Oliver Meiler, „Zona nera“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 20, 24.03.2020.
(4) Gerhart Baum, „Nicht jedes Mittel ist Recht“, in: Der Tagesspiegel, Nr. 24134 vom 25.03.20, auch unter: Grundrechte in der Coronakrise. Schmerzhafte Abwägungen zwischen dem Schutz der Gesundheit und des Rechts [Zugriff am 28.02.2020].
(5) Die zahlreich geehrte Wissenschaftlerin war unter anderem Professorin und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich (1993–2008) und Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin (1976-1993) und ist Autorin des Buches „Supermacht des Lebens – Reise in die erstaunliche Welt der Viren“, München 2014, ISBN 978-3-406-66969-9. Siehe „Virologin Mölling warnt vor Panikmache“, in: Radio Eins, 14.03.2020 [Zugriff am 28.03.2020].
(6) David L. Katz, „Is Our Fight Against Coronavirus Worse Than the Disease?“, in: The New York Times, 20. März 2020 [Zugriff am 28.03.2020].
Aktuelles zum Nachlesen
Interview mit Alexander Dibelius, „Eine teuflische Spirale“, in: Handelsblatt, Nr. 59 vom 24.03.2020, Finanzen & Börsen, S. 32.
Artikel von Sibylle Anderl, „Die Katastrophe kann auch in Deutschland passieren“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.03.20 [Zugriff am 28.03.2020].
Mirco Nacoti et al., „At the Epicenter of the Covid-19 Pandemic and Humanitarian Crises in Italy: Changing Perspectives on Preparation and Mitigation“, in: NEJM, 21. März 2020 [Zugriff am 28.03.2020].
Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V., „Covid-19: Wo ist die Evidenz? Stellungnahme vom 20.03.20“ (aktualisiert am 23.03.24) [Zugriff am 28.03.2020], hier mit umfangreicher Literaturliste.
Zum Autor
Prof. Dr. med. Constantin E. Orfanos war Professor für Dermatologie und Venerologie an der Freien Universität Berlin (FU) und leitete dort die Hautklinik im Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF). Als Wissenschaftler hat er bereits sehr früh, im Jahre 1962 bei der Bekämpfung der Pockenepidemie in der Eifel mitgewirkt und im Jahre 1982 den ersten HIV-infizierten Patienten mit assoziiertem Kaposi-Sarkom in Deutschland in seiner Klinik in Berlin diagnostiziert und der Ärzteschaft vorgestellt. Den Verlauf der Pandemie mit dem HI-Virus in den 1980er- und 1990er-Jahren hat er „hautnah“ miterlebt und klinisch mitgestaltet. Nach 26-jähriger akademischer und forscherischer Tätigkeit an der FUB wurde Orfanos Ende 2004 emeritiert, hat seither mehrfach China, viele Länder des mittleren Ostens und Afrikas bereist, hielt dort zahlreiche Vorlesungen und Vorträge zwecks Verbesserung der Krankenversorgung und war auch als Volontärarzt in einem christlichen Missionskrankenhaus längere Zeit in Tansania tätig.